Dietrich H. Becker/ Wolfgang Böttcher 

6 mögliche Einwände gegen ein verbindliches Kerncurriculum

1. Ein festes und verbindliches Kerncurriculum ist nicht notwendig. Schulgesetze, Lehrpläne und Unterrichtsrichtlinien geben die Ziele und Inhalte unterrichtlicher Tätigkeit vor.

Sicherlich bieten die geltenden Ziel- und Stoffvorgaben der Kultusministerien wichtige Anhaltspunkte. Allerdings geben die „offenen“ Rahmenpläne einiger Bundesländer, die nach neueren Untersuchungen von vielen Lehrern noch nicht einmal in ausreichendem Maße beachtet werden, lediglich relativ unverbindliche Orientierungen, so dass eine Intransparenz darüber besteht, was wirklich in der jeweiligen Klassenstufe gelernt wird. Die konkreteren Unterrichtsrichtlinien anderer Bundesländer beinhalten zwar explizite Stoffkataloge, die aber wiederum dermaßen umfangreich sind, dass oft relativ willkürlich ausgewählt werden muss. Die Zielvorgaben in den Schulgesetzen sind phrasenhaft formuliert und verzichten auf operationalisierbare Sollbeschreibungen. Und wenn tatsächlich formal klare Vorgaben gemacht werden, wie zum Beispiel in dem stark rezipierten Bericht der nordrhein-westfälischen Bildungskommission, der von „zentralen curricularen Vorgaben“ und von der „Ausformulierung eines Kerncurriculums auf der Basis geltender Richtlinien und Lehrpläne“ spricht, wird leider auf klare Detailregelungen verzichtet. Ohne ein klares Wissensfundament in den ersten Schuljahren jedoch, darüber sind sich immer mehr Fachleute einig und das zeigen auch die einschlägigen empirischen Untersuchungen immer deutlicher, kann weder die Kapazität zum weiteren, lebenslangen Lernen herausgebildet werden noch lassen sich die hehren übergeordneten Lernziele der Schulgesetze wie etwa „Kritikfähigkeit“ oder „Toleranz“ erreichen. 
 

2. Die Idee eines verbindlichen Kerncurriculums ist zu einseitig an amerikanischen Vorbildern orientiert.  Schulsystem, Bildungspolitik und sozialökonomische Bedingungen Deutschlands und der Vereinigten Staaten sind nicht vergleichbar.

Während in den Natur- und Sozialwissenschaften die USA als wissenschaftlicher Orientierungsraum par excellence gilt, beschränkt sich die Rezeption der amerikanischen Forschung in den Erziehungswissenschaften zur Zeit immer noch auf wenige Teilbereiche. Angesichts der immer weiter fortschreitenden Interdependenzen und der zumindest aus einer Weltsystemperspektive äquivalenten Problemfelder und Entwicklungen wird die weitere Öffnung auch gegenüber den Erfahrungen der englischsprachigen Länder zum Desiderat. Sicherlich ist das amerikanische Schulsystem mit seiner überwiegend lokalen Finanzierung und Organisation nicht ohne weiteres mit dem deutschen vergleichbar. Aber dennoch sollten wir auf die wertvollen Erfahrungen, die an mehreren hundert amerikanischen Privatschulen mit dem verbindlichen Kerncurriculum gemacht wurden, nicht so ohne weiteres verzichten. Denn das Konzept scheint wirksam zu sein. In einer Reihe von empirischen Untersuchungen sind dort die Wirkungen der Implementierung von Kerncurricula durchaus positiv bewertet worden. So hat zum Beispiel eine kürzlich veröffentliche dreijährige quantitative und qualitative Studie der John Hopkins University die Wirksamkeit verbindlicher Kerncurricula ausführlich verdeutlicht. Und es sollte nicht vergessen werden, dass zumindest in einem Punkt eine offensichtliche Gemeinsamkeit besteht: auch in Amerika gibt es einen Bildungsföderalismus.
 

3. Der Begriff „Kerncurriculum“ ist unklar und missverständlich. Seine Verwendung als „Kerncurriculum des Wissens“ ohne Berücksichtigung methodisch-medialer Aspekte, so wie hier in Anlehnung an den amerikanische Begriff „core curriculum“ vorgeschlagen wird, widerspricht dem gängigen wissenschaftlichen Sprachgebrauch. 

Es stimmt zwar, dass im wissenschaftlichen Sprachgebrauch der deutschen Erziehungswissenschaften Curriculum heute vielfach als ein erster Entwurf für Lehr-Lern-Prozesse betrachtet wird, der Aussagen über Inhalte, Ziele, Lernbedingungen, Medien, Methoden und Evaluationsverfahren macht. Es sollte aber mitbedacht werden, dass die vor allem nach dem Import des Curriculumbegriffs Ende der sechziger Jahre einsetzende Begriffsdebatte keineswegs beendet ist. Das begrifflich-territoriale Verhältnis zwischen Curriculum, Didaktik und Methodik ist derzeit nicht geklärt. Davon zeugen nicht zuletzt die Anfang der neunziger Jahre beginnenden internationalen Debatten zum Verhältnis von Didaktik und Curriculumtraditionen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit der Begriff hier wirklich entscheidend ist. Popper schrieb einmal, dass es nicht auf Begriffe ankomme, sondern auf Theorien. Und in der Tat geht es hier einzig und allein um die Sache, nämlich um einen konkreten und verbindlichen Grundkanon an Wissen und Fertigkeiten. Ob man hier von Kerncurriculum, core curriculum, Minimalwissen, gemeinsamem Wissensbestand oder Fundamentum sprechen soll, ist zuerst einmal von sekundärer Bedeutung und wird sich im Laufe der Diskussionsentwicklung weiter klären. Mediale und methodische Aspekte werden nicht ausgeklammert. Nur gehören sie gerade nicht festgelegt, sondern sollen der professionellen Entscheidung des Lehrers in der konkreten Situation überlassen werden. 
 

4. Feste Wissensstandards durch ein verbindliches Kerncurriculum verhindern Chancengleichheit 

Der Begriff Chancengleichheit ist etwas aus der Mode gekommen, obwohl klar gezeigt werden kann, dass schichtspezifische und ethnische Ungleichheit auch in den neunziger Jahren in der Schule fortbestehen. Die bisherige Reformdiskussion hat das Problem der Chancengleichheit weder praktisch noch theoretisch befriedigend gelöst. Die Instrumente, die dazu gedacht waren, Bildungschancen für alle zu erhöhen, waren offenbar wenig tauglich. Sicherlich sind Bedenken aus einer engagiert reformpädagogischen Position nachvollziehbar, die durch die Einführung fester und für alle geltenden verbindlichen Wissensstandards im Sinne des Kerncurriculums einen weiteren Schritt in eine Schulpolitik befürchtet, der die Verpflichtung des Grundgesetzes, Chancengleichheit zu realisieren, nichts bedeutet. Denn die Bemühungen um freie pädagogische Entwicklungsarbeit, um individuelle und durch Vielfalt gekennzeichnete Arbeit mit dem einzelnen Schüler sowie um die Durchsetzung des Anspruches auf Selbstbestimmung und die Entwicklung eigener Sinnzusammenhänge, so mag geargwöhnt werden, seien durch verbindliche inhaltliche Vorgaben für die einzelnen Altersstufen gefährdet. Die Bedenken mögen verständlich sein. Und doch entsprechen sie weder dem Grundgedanken des Konzepts noch den empirischen Befunden. Zum einen geht es nicht darum, sämtliche Inhalte vorzuschreiben, denn der durch das Kerncurriculum festgelegte Wissenskatalog soll nur einen bestimmten Teil der Unterrichtszeit abdecken. Ob es sich dabei um 40%, 50% oder 60% der zur Verfügung stehenden Zeit handelt, lässt sich im Verlaufe der Diskussion ganz bestimmt aushandeln. Zum zweiten geht es nicht um methodisch-mediale Vorgaben. Die Aufgabe des Lehrers, hierbei die individuellen Lern- und Rahmenbedingungen zu berücksichtigen und somit auch kompensatorischen Intentionen nachzukommen, soll keineswegs angetastet werden. Schließlich dürfen auch die vorliegenden internationalen empirischen Befunde nicht einfach ignoriert werden. Nicht nur in den USA  haben sich an den mit einem verbindlichen Kerncurriculum arbeitenden Grundschulen kompensatorische Tendenzen im Sinne von mehr Chancengleichheit herauskristallisiert. Auch in Frankreich, wo schon in den Vorschulen (école maternelle) mit festen Kerncurricula gearbeitet wird, gelingt es, Eingangsdefizite zu kompensieren und lernschwache oder benachteiligte Schüler im Verlaufe der ersten Schuljahre allmählich an das Durchschnittsniveau heranzuführen. 
 

5. Unser Wissen verändert sich ständig. Deshalb ist nicht die Vermittlung von verbindlichem Faktenwissen, über dessen Auswahl gar keine Einigung zu erzielen ist, von entscheidender Bedeutung, sondern vor allem die Befähigung zu effektivem Lernen und kritischem Denken.

Trotz der enormen Wissensexplosion lässt sich eine relativ gut fundierte Basis unseres Wissens herausarbeiten. Hierzu gehören, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, die wesentlichen mathematischen Grundlagen und physikalischen Konzepte genauso wie ein solides historisches Basiswissen, Literaturkenntnisse und die Rudimente der Musiklehre. Nur wer hier wirklich Bescheid weiß und über ein bestimmtes „Kernwissens“ verfügt, entwickelt die allgemein als „Schlüsselqualifikationen“ bezeichneten Disposition, wird „teamfähig“ und tolerant, lernt kritisch zu denken und kann am demokratischen Diskurs partizipieren. Die Auswahl und verbindliche Festlegung eines solchen Basiswissens, das natürlich einer permanenten Revision bedarf, muss das Ergebnis eines partizipativen und offenen Prozesses sein. In den USA ist das Kerncurriculum erst nach jahrelanger Entwicklungsarbeit und unzähligen Diskussionen sowohl im Expertenkreis als auch in der interessierten Öffentlichkeit vorgelegt worden. Selbstverständlich sind auch Lerntechniken von erheblicher Bedeutung. Es steht außer Frage, dass die Schüler lernen müssen, wie man sich Informationen beschaffen kann und wie man systematisch und effektiv arbeitet. Auch solche Fertigkeiten müssen im Rahmen der entsprechenden Fächer vermittelt werden. Nur kann hierdurch nicht das Wissensfundament ersetzt werden. Auch das kritische Denken soll in der Schule selbstverständlich gefördert werden. Untersuchungen der kognitiven Psychologie haben jedoch Belege dafür geliefert, dass kritisches Denken immer auf einem guten Grundwissen beruht. Kritisches Denken als ein losgelöstes Lernziel, quasi als metakognitive Fertigkeit ohne direkten Bezug zu entsprechendem fachspezifischen Grundlagenwissen, scheint wenig erfolgversprechend zu sein. Sowohl kritisches Denken als auch effektives Lernen bedürfen einer soliden Wissensbasis. Diese kann durch ein verbindliches und gestuftes Kerncurriculum geschaffen werden. 
 

6. Die Lehrer fühlen sich bevormundet. Sie wollen keine Vorgaben.

Sicher mag das für viele Lehrer zutreffen. Die wissenschaftlichen Befragungen aber, die zu diesem Thema vorliegen, zeigen, daß eine Mehrheit der Lehrer die Unklarheit ihrer beruflichen Aufgabenstellung beklagt. Woran liegt es, dass Lehrerinnen und Lehrer nur selten das Pensionsalter erreichen? Sicher nicht daran, dass sie glücklich sind in der augenblicklichen Situation der Unverbindlichkeit. Ein Großteil der Lehrerschaft hat keine Probleme, sich auf eine klar definierte Aufgabenstellung einzulassen. Aus Sicht einer Gesellschaft, die die Lehrer bezahlt, wäre das auch nicht verständlich. Ein Kerncurriculum nimmt den Lehrern unter dem Strich keine Freiheit. Es befreit sie, ihrer eigentlichen Aufgabe besser nachkommen zu können: Nicht die Stoffauswahl ist ihre Aufgabe, sondern Kinder mit didaktisch und methodisch modernen Verfahren zu bilden und erziehen.